Die Geiselnahme von Gladbeck
Die erste Besatzung machte das Verbrechen schlimmer
Es ist Dienstag, der 16. August 1988, Viertel nach sieben. Die Republik erwacht mit Nachrichten über einen Hormonskandal in deutschen Mastbetrieben, mit Meldungen über streikende Bergarbeiter in Polen und Berichten über den Präsidentschaftswahlkampf in den USA zwischen dem Demokraten Michael Dukakis und dem Republikaner George Bush. Der Wetterbericht sagt einen weiteren heißen Tag vorher mit schwülen hochsommerlichen Temperaturen. Niemand in Deutschland ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass in den nächsten 54 Stunden nur noch ein Thema die Nachrichten beherrschen wird. Ein Verbrechen, das sich als das „Geiseldrama von Gladbeck“ ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Nation einbrennen wird. Monströs und bizarr. Grausam und abstoßend – und doch von einer furchtbaren Faszination, die bis heute anhält. Eine Tat, die als Provinzbankraub beginnt und sich zu einem Kapitalverbrechen auswächst. So etwas gab es in der deutschen Kriminalgeschichte zuvor noch nie.
Rein in die Bank, Tresor ausräumen und ruck, zuck wieder raus – in ein neues, sorgenfreies Leben. Weiter denken können sie nicht
Die beiden Männer ziehen sich schwarze Masken mit Augenschlitzen über die Gesichter und steigen auf eine rote Honda 250, ein Motorrad, das sie zwei Tage zuvor gestohlen haben. Sie wollen zu einer Filiale der Deutschen Bank in der Schwechater Straße, nur ein paar Hundert Meter entfernt gelegen in einer tristen Ladenzeile aus Beton und rotbraunen Klinkern im Gladbecker Stadtteil Rentfort-Nord. Die zwei Männer sind vorbestraft: Kellereinbrüche, geklaute Autos, Raubüberfälle und auch ein paar Körperverletzungen. Immer wieder müssen sie dafür ins Gefängnis. Aber im Grunde genommen sind sie Hühnerdiebe, Kleinkriminelle also, die seit Jahren ihr Leben zwischen Trinkhallen und Knast fristen. Unstrukturiert, zu keinem großen Coup fähig und nicht gerade mit übermäßiger Intelligenz gesegnet. Der Plan den sie zu der Zeit umsetzten war also eher eine Schnapsidee. Sie wurden im Rausch von Dosenbier, Schlaftabletten und einem Cocktail schon seit Monaten aufgeputscht.
Doch schon nach wenigen Metern fliegen die Maskierten aus der ersten Kurve. Das Motorrad kippt um, der Sozius schlägt sich das Knie auf. Das erste Fiasko in einer Kette aus Pannen und fast schon irrwitzigen Zufällen, die von nun an das Geschehen bestimmen sollen. Es ist Zufall, dass Ali Kemmuna (53) an diesen morgen verschläft. Für aus dem Irak stammenden Arzt, der seine Praxis nähe der Bank hatte war dies ungewöhnlich. Er steuerte kurz vor acht mit etwas Verspätung seinen roten Mercedes auf seinen reservierten Parkplatz hinter der Bank. Ein weiterer Zufall, in genau diesem Moment, als die vermummten Gangster den Kassierer Reinhold A. (35) bedrohten sah der Ali Kemmuna beide Verdächtigen, die gerade dabei waren Reihnhold A. auf den Boden zu zwingen, um die Innentür der Schalterhalle zu verriegeln.
Die ersten Polizisten des Verbrechens machten verhängnisvolle Fehler
Der bedrohte Mann Reinhold A., ist Patient von dem vorbeilaufenden Dr. Kemmuna. Er leidet an Herzrhytmusstörungen sowie auch niedrigen Blutdruck. Sofort begreift der Arzt, dass er Zeuge eines Banküberfalls geworden ist und sein Patient in Lebensgefahr findet. Er geht im normalen Schritt weiter, bis er aus dem Sichtfeld der Bankräuber war. Dann hastet er die Treppen zu seiner Praxis hinauf, nimmt den Telefonhörer auf und wählt den Notruf 110. Ein Zufall, dass sich an diesem Morgen auch der Filialleiter der Bank, Wolfgang S., verspätet. Was die beiden Gangster nicht bedacht haben: Sie brauchen nicht nur den Schlüssel des Kassierers, sondern auch den des Leiters, um den Tresor zu öffnen.
Was tun? Wieder unverrichteter Dinge abziehen? Wie schon einmal, sieben Stunden zuvor? Gegen ein Uhr nachts hatten sie in eine Filiale der Stadtsparkasse Gladbeck eindringen wollen. Doch schon beim Versuch, die Fensterläden hochzuschieben, machten sie so viel Lärm, dass Anwohner die Polizei riefen.
Die Entscheidung wird ihnen durch die Polizei abgenommen, die nach dem Notruf von Dr. Kemmuna sofort zwei Streifenwagen zur Bank geschickt hat. Doch schon die ersten Polizisten, die in dieses Verbrechen unmittelbar involviert sind, machen zwei verhängnisvolle Fehler. Die Besatzung des Streifenwagens ist noch unerfahren. Sie kontrolliert gerade einen liegen geblieben Lkw, als sie über Funk in die Schwechater Straße geschickt wird. Die Beamten sollen erst einmal die Rückseite der überfallenen Bank sichern. Ganz nach Vorschrift fahren sie ohne Martinshorn vor und schalten wenige Hundert Meter vor der Bank auch das Blaulicht aus, um die Gangster nicht aufzuschrecken. Doch unvorsichtigerweise nehmen die Polizisten an, dass die Bank an der Rückseite nur Oberlichter hat. Als sie um die Ecke biegen, fahren sie an breiten Glasfenstern vorbei, den Bankräubern direkt ins Sichtfeld.
Der Überfall wurde durch die Polizei zu einer Geiselnahme
Die darauffolgende zweite Besatzung wird von der Funkzentrale zum Eingang der Bank geschickt. Zusammen mit dem Plozeihauptmeister, der sich mit einer Maschinenpistole bewaffnet hinter einem Blumenkübel in Stellung bringt. Das Problem dabei, dies geschah alles vor den Augen der Banmkräuber. Somit wussten sie das es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. Es ist jetzt 8.08 Uhr. Aus dem Banküberfall ist eine Geiselnahme geworden. Und schon bald wird das ganze Land live am Radio und im Fernsehen mit dabei sein, wie sich ein Allerweltsverbrechen zu einer Tragödie nationalen Ausmaßes auswächst. Die Gangster versperrten durch das Vorziehen der Vorhänge und das Aufstellen von Werbeplakatten den Blick in die Bank.
Dann zwingen sie den Kassierer und seine Kollegin, die Kundenberaterin Andrea B. (24), in die schusssichere Kassenbox, um der Polizei die gewaltsame Befreiung der Geiseln zu erschweren. Und um zu beweisen, dass sie jetzt zu allem entschlossen sind, beginnen sie wie wild um sich zu schießen. Erst wahllos in die Decke, dann gezielt auf einen Polizisten, der vor der Bank mit einer MP in Stellung gegangen ist. Die Kugel verfehlte jedoch das Ziel. Aber die Schüsse zeigten ihre Wirkung, immer mehr Polizeikräfte aus ganz Nordrhein-Westfalen rückten an. Zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei, die Beratergruppe für Fälle schwerster Gewaltkriminalität des Landeskriminalamtes in Düsseldorf, das Spezialeinsatzkommando (SEK) aus dem nahen Essen, die mobilen Einsatzkommandos (MEK) aus Münster und Köln. Und aus Dortmund psychologisch geschulte Verhandlungsführer.
Man sollte herausfinden wie die Täter psychologisch einzuschätzen sind.
Die Einsatzleitung übernimmt der leitende Kriminaldirektor Friedhelm Meise (47) aus dem Polizeipräsidium Recklinghausen, ein langjähriger Mitarbeiter des amtierenden NRW-Innenministers Herbert Schnoor (SPD, 61).Meise ist ein erfahrener Mann. Die Polizeidienstvorschrift 132 „Einsatz bei Geiselnahmen“ kann er im Schlaf aufsagen. Und er erkennt schnell, dass seine Experten vor Ort die Situation richtig einschätzen: Die Bank zu stürmen wäre mit einem hohen Risiko verbunden, dass die Geiseln dabei ihr Leben lassen. Stattdessen setzt er auf die Taktik „ermüden und zermürben“ und schickt Kriminalhauptkommissar Manfred Doerks aus der Gruppe der Verhandlungsführer an die Front. Der soll am Telefon das Vertrauen der Täter gewinnen, auf ihre Forderungen eingehen, sie aber auch immer wieder hinhalten und so verunsichern, dass sie vielleicht aufgeben.
Knapp sieben Stunden nach dem Überfall war die Polizei immernoch hilflos, wer die beiden Männer in dieser Bank waren. Das Einzige, was sie inzwischen weiß, sind ihre Forderungen: 300.000 Mark Lösegeld für die Geiseln, den Zweitschlüssel für den Tresor, Handschellen, als Fluchtfahrzeug einen BMW 735i und freien Abzug. Doch statt unterschwellig den nötigen Druck auf die Geiselgangster auszuüben, verfällt Doerks schnell in einen kumpelhaften, ja fast schon unterwürfigen Tonfall. Die Protokolle der Gespräche lesen sich so bizarr wie die Dialoge in einem Schmierentheater. Die Täter durchschauen sein doppeltes Spiel und werden mit jedem Telefonat noch mehr bestärkt, an ihren Forderungen festzuhalten. Damit verpufft das (vorgetäuschte) Angebot der Staatsanwaltschaft Essen, nur sechs Monate Freiheitsstrafe zu fordern, wenn die Gangster kapitulieren und innerhalb einer Stunde ihre Geiseln freilassen.
Radio- und Fernsehsender belagerten die Geiselnehmer am Telefon
Immerhin ein Gutes haben die auf Tonband mitgeschnittenen Gespräche von Kriminalhauptkommissar Doerks. Auf einem der Bänder erkennt eine Zeugin die Stimme eines der Täter. „Das ist Jürgen Rösner, mein Ex-Mann. Und der andere muss sein alter Kumpel Dieter Degowski sein.“ Erst jetzt, es ist 15.12 Uhr, weiß Einsatzleiter Meise, mit wem er es zu tun hat: mit stadtbekannten Kleinkriminellen, für die ein Banküberfall eigentlich mehr als eine Nummer zu groß ist. Erst recht eine Geiselnahme. Doch was nicht in seiner Dienstvorschrift 132 steht, ist, wie mit Tätern zu verfahren ist, die sich plötzlich ihrer Medienwirksamkeit bewusst werden. In seiner Not und mit Billigung der Gangster hat der Bankkassierer inzwischen die Nachrichtenredaktionen des WDR in Köln. Und der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ in Essen über die Geiselnahme informiert.
Er hofft auf eine schnellere Freilassung durch den öffentlichen Druck auf die Polizei – bringt aber so unbewusst eine Medienlawine ins Rollen, die nicht mehr zu stoppen sein wird. Seit Stunden klingelt in der Bank nun immer wieder das Telefon. Die Nummer (02034) 24092, über die die Täter und die Geiseln in der Bank zu erreichen sind, hat die Polizei nicht gekappt. In der Hoffnung, dass sich darunter vielleicht Komplizen der Gangster melden. Doch stattdessen rufen Radiostationen aus ganz Deutschland an, wollen Fernsehsender und Zeitungsredaktionen mit den Gangstern und den Geiseln sprechen, um Informationen aus erster Hand zu bekommen. Unter den Anrufern ist auch Hans Meiser, der Anchorman und Nachrichtensprecher des privaten Fernsehsenders RTL in Köln.
Die Geiselnahme gerät zum Medienspektakel – die Polizei immer mehr unter Druck
Immer mehr verlieren die Journalisten die Distanz. Die Grenze zwischen reiner Berichterstattung und aktivem Eingreifen in das Geschehen verschwimmt. Manche Reporter dienen sich sogar als Handlanger an und fragen, wie sie den Gangstern helfen können. Und mit jedem Telefonat berauschen sich Rösner und Degowski mehr an Ruhm und Macht, die sie plötzlich spüren. Zusätzlich aufgeputscht durch noch mehr Alkohol und Tabletten versteigen sich die beiden in immer wildere Drohungen und prahlen damit, sich notfalls selbst ein „Peng in die Birne“ zu geben.
Am frühen Abend dieses 16. August 1988 gibt sie schließlich den Forderungen der Geiselnehmer nach. Wie gewünscht deponiert um 17.32 Uhr ein nur mit einer roten Badehose bekleideter Polizist 300.000 Mark Lösegeld in drei Klarsichttüten vor der Bank. Wie ein Kettenhund muss der Kassierer Reinhold A. auf allen vieren zum Eingang kriechen. Und das Geld durch den Türspalt ziehen, um den Hals ein Elektrokabel geschnürt, dessen Ende Rösner in der Hand hält. Zusätzlich bedroht Degowski die Geisel Andrea B. mit seinem Revolver. Das Lösegeld haben die Gangster jetzt. Aber nicht den von ihnen ebenfalls geforderten Zweitschlüssel für den Tresor. Den hat ihnen die Polizei bei der Übergabe unterschlagen. In der Hoffnung, dass sich Rösner und Degowski mit den 300.000 Mark zufriedengeben.
Nach 13 Stunden und 47 Minuten verließen die Täter die Bank
Was sie dabei nicht bedacht hat, ist, dass Rösner geradezu besessen davon ist, „einmal im Leben in so einen Tresor schauen zu können“. Wie er schon öfters gegenüber seinen Kumpel erzählt hatte. Und so muss die Polizei auch diese Forderung erfüllen und hilflos mitansehen, wie Rösner den Bankkassierer noch einmal zur Tür kriechen lässt. Um auch den Schlüssel in Empfang zu nehmen. Zusätzlich zu den 300.000 Mark erbeuten die Gangster 120.000 Mark aus dem Tresor und noch einmal drei Geldbomben aus dem Nachttresor. Die 870 Mark in der dritten Geldbombe rührt Rösner nicht an. Als er von dem Kassierer erfährt, dass die 870 Mark einem Pommesbuden-Besitzer gehören, will er sich nicht an „diesem armen Schwein“ bereichern. Nur einmal gelingt es der Polizei an diesem Tag, Rösner und Degowski auszutricksen.
Um 20.40 Uhr fährt statt des geforderten BMW 735i ein weitaus langsamerer weißer Audi 100 vor. Die Ausrede, dass die Mietwagenfirma wegen der Urlaubszeit keinen BMW zur Verfügung hätte, akzeptiert Rösner. Dass der Audi mit versteckten Mikrofonen und einem Peilsender präpariert ist, ahnt er aber. Und so sprechen die Gangster kein Wort, als sie sich um 21.47 Uhr, nach 13 Stunden und 47 Minuten in der Bank, mit ihren Geiseln auf die Flucht begeben.
Mit welchem Ziel, weiß zu dieser Stunde nur Rösner selbst…
Neue Geiselnahme in einem Bus der Linie 53 mit 32 Menschen
In einer Wohnung in Gladbeck holen die Gangster Rösners Freundin Marion Löblich ab. Zunächst irren sie ziellos durchs Ruhrgebiet. Schließlich entscheiden sie sich, nach Bremen zu fahren. Marion Löblich stammt von dort. Am 17. August im Bremer Stadtteil Vegesack unternehmen Rösner und Löblich einen gemütlichen Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone. Währenddessen bleibt Degowski mit den beiden Geiseln im Auto. Die Gangster fühlen sich anscheinend sicher. Aber die Polizei hat sie mittlerweile aufgespürt. Die Beamten können beobachten, dass Degowski zwischenzeitlich sogar das Auto verlässt, um zur Toilette zu gehen. Doch die Polizei gab keinen Befehl zum Zugriff. So konnten die Gangster sich ungehindert davonmachen. Die Verfolger lassen sich jedoch nur kurz abschütteln. Als Rösner und Degowski die Polizei bemerken, kommt es kurz nach 19 Uhr zu einer Kurzschlussreaktion: Im Bremer Stadtteil Huckelriede kapern sie einen Bus der Linie 53 und bringen weitere 32 Menschen in ihre Gewalt.
Die Presse rückte immer näher an den Linien Bus ran
Immer mehr wurde diese gefährliche Aktion zu einem öffentlichen Ereignis. Ungehindert gelangen immer mehr Schaulustige und Reporter an den Bus. Beide Gangster genießen die Aufmerksamkeit der Presse. Vor dem Bus gibt Rösner eine „Pressekonferenz“. Sein Kumpel Degowski sei „brandgefährlich“, prahlt er. Erzählt von seinem Leben und seiner Kindheit in Erziehungsheimen. 13 Jahre hat er insgesamt schon im Gefängnis gesessen. Bevor er wieder in den Knast müsse, wolle er alle Geiseln und dann sich selbst erschießen. Sein Leben sei ihm egal. Medienwirksam steckt er sich den Lauf seiner Pistole in den Mund. Warum denn all die unschuldigen Menschen sterben sollen, wird er gefragt. Rösner zuckt mit der Schulter und murmelt nur: „Kann ich nichts für.“ Die Geiselnehmer versuchten immer wieder die Polizei zum Verhandeln zu bringen. Aber alle Versuche schlagen fehl: Niemand in der oberen Führungsetage scheint sich zuständig zu fühlen.
Überhaupt agiert der gesamte Bremer Polizeiapparat kopflos und ohne ein erkennbares Konzept. Mit einer derartigen Situation hat niemand gerechnet, entsprechende Notfallpläne existieren nicht. Rösner wird derweil zusehends aggressiver. Immer wieder hält er der achtjährigen Tatiana de Giorgi, die zusammen mit ihrem Bruder Emanuele im Bus sitzt, seine Waffe an den Kopf. Droht, sie zu erschießen, wenn nicht bald jemand mit ihm Kontakt aufnimmt. Schießt um sich, als er hinter einem Fenster Scharfschützen vermutet. Als es dunkel ist, setzt sich der Bus schließlich in Bewegung.
Ich kann mir nicht vorstellen das er mich erschießen wird
Verfolgt von der Polizei, steuert der Bus mit den Gangstern und ihren Geiseln auf die Autobahn. Eine Reihe an Reportern verfolgten das Geschehen. Ein Polizeibeamter kommt während der Verfolgung bei einem Verkehrsunfall ums Leben. An der Raststätte Grundbergsee an der A 1 bei Sottrum in Niedersachsen machen die Entführer kurz nach 23 Uhr Halt. Rösners Freundin will zur Toilette. Erneut gehen´die Reporter zu den Geiselnehmern um zu verhandeln. Die beiden erschöpften Geiseln aus der Bank wurden dadurch freigelassen. Derweil müssen andere Geiseln für Interviews herhalten. Vor laufender Kamera fragt ein Reporter Silke Bischoff: „Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?“ Die 18-jährige Geisel, von Degowski mit einer Waffe bedroht, versucht zu lächeln. Es gehe ihr „eigentlich ziemlich gut„, erklärt sie. Und dass sie sich nicht vorstellen kann, dass er wirklich abdrücken würde.
Das erste Todesopfer starb wegen den Fehlern der Polizei
Dann eskaliert das Drama. Polizeibeamte haben Löblich auf der Toilette überwältigt und festgenommen – offenbar eigenmächtig; wer das Kommando dazu gab, ließ sich nie klären. Rösner rastet aus. Wenn seine Freundin nicht in fünf Minuten freigelassen werde, müsse eine Geisel sterben. Die Polizei gibt nach. Doch der Schlüssel für die Handschellen bricht ab. Die Freilassung verzögert sich. Da schießt Degowski dem 15-jährigen Emanuele de Giorgi vor den Augen seiner kleinen Schwester in den Kopf. Reporter tragen den Schwerverletzten aus dem Bus. Einer von ihnen hält den Kopf des Jungen noch in die Kamera. Ein weiterer verhängnisvoller Fehler der Einsatzleitung wird offenbar: Es befindet sich kein Rettungswagen vor Ort. De Giorgi verblutet.
Wieder fährt der Bus davon, dieses Mal Richtung Niederlande. Dort tauschen die Gangster den Bus gegen einen von der Polizei gestellten, präparierten BMW ein und lassen die meisten Geiseln frei. Zwei Bremer Mädchen aus dem Bus, Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitle, bleiben jedoch in ihrer Hand. Die Geiselnehmer fahren zurück nach Deutschland. In Wuppertal besorgen sie sich am Morgen des 18. August aus einer Apotheke Aufputschmittel, fahren weiter nach Köln. Dort wird das Fahrzeug der Entführer in der Innenstadt von Schaulustigen und Reportern umlagert. Ihr Ziel ist Frankfurt am Main. Bei Bad Honnef endet am Mittag schließlich ein Befreiungsversuch der Polizei in einer Tragödie. Silke Bischoff stirbt durch eine Kugel aus Rösners Waffe. Ines Voitle springt aus dem Wagen und bleibt weitgehend unverletzt.
Zu den verantwortlichen Tätern: (Hans Jürgen Rösner)
Hans-Jürgen Rösner wird am 22. März 1991 vom Schwurgericht der II. Großen Strafkammer am Landgericht Essen „wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit Geiselnahme. Jeweils mit Todesfolge, mit schwerer räuberischer Erpressung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit vorsätzlichem Eingriff in den Straßenverkehr, wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub verurteilt. Auch wegen schweren Raubes in vier Fällen, wegen versuchten schweren Raubes in zwei Fällen und wegen schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen zu lebenslanger Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Sicherheitsverwahrung wird angeordnet. Vor Ablauf von fünf Jahren darf ihm eine Fahrerlaubnis nicht erteilt werden.
Der Aufhebung seiner Sicherheitsverwahrung sowie seiner Freilassung müssen zwei Gutachter bestimmen.
Zusätzlich wird Rösner am 18. August 2009 wegen eines „minder schweren Fall des Rauschgiftbesitzes“ vom Amtsgericht Bochum zu sechs Monaten Haft verurteilt. In seiner Gefängniszelle war er am 25. März des gleichen Jahres mit sieben Gramm Heroin erwischt worden. Im Prozess gibt Rösner zu, das Rauschgift, eingeschweißt in einem Tütchen, von einem „Kollegen“ aus dem Knast bekommen zu haben. Er sollte es auf mehrere Glasröhrchen verteilen, weil man die besser verstecken könne. Eines davon sollte er behalten dürfen. Erst im Oktober 2015 wird der Strafvollzug für Hans-Jürgen Rösner etwas gelockert. Zum ersten Mal bekommt er in Begleitung von drei Wachbeamten für ein paar Stunden Ausgang aus der Justizvollzugsanstalt Aachen, in die er 2013 verlegt worden ist.
Die Urinprobe für einen Drogentest danach verweigert er mit dem Hinweis auf die „Verletzung seiner höchstpersönlichen Intimsphäre“. Zudem bricht er die laufende Gesprächsreihe mit Anstaltspsychologen ab. Sein Antrag auf eine weitere Ausführung im folgenden Jahr wird deshalb abgelehnt. Erst im Oktober 2017 darf Rösner erneut für vier Stunden das Gefängnis verlassen. Seinen Ausgang nutzt er, um in einem Supermarkt ein paar CDs zu kaufen und etwas an einer Pommesbude zu essen. Seit dem November 2017 hat er nach langem Widerstand eine Therapie begonnen. Rösner ist in der Haft an Hepatitis C und Diabetes erkrankt.
Täter Nummer zwei (Dieter Degowski)
Die schon dreimal geschiedene Frau willigt ein. Sie hat selbst ein zerrüttetes Leben mit Alkoholikern und gewalttätigen Männern hinter sich. Über ihre Beweggründe „wundert sie sich selbst“. Sie habe wahrscheinlich selbst „einen Schaden“, sagt sie 1991 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ Schon kurze Zeit später wird die Ehe wieder geschieden.
Im Gegensatz zu Rösner wehrt sich Degowski nicht gegen eine therapeutische Behandlung im Gefängnis. „Doch er hat die Therapien nur angekratzt“, urteilt 2012 Michael Skirl, der Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl, im Nachrichtenmagazin „Focus“. „Er war der Fußabtreter und Schluffen seines Komplizen Hans-Jürgen Rösner. Und er ist dissozial, wehleidig und menschlich gesehen eine Null.“ Außerdem sei er zu keinem anderen Job geeignet, als den Gefängnishof zu reinigen. Eine Lehre zum Koch habe er „nur gerade so eben“ durchgehalten. „Die haben ihn nur bestehen lassen, damit er auch mal ein Erfolgserlebnis hat.“ Ansonsten würde er nur noch vor sich hin vegetieren.“
Nach 30 Jahren Gefängnis sehen die Gutachter in Degowski keine Gefahr mehr für die Gesellschaft. Er erhält eine neue Identität, um ihm die Resozialisierung zu ermöglichen. Mitte Februar 2018 wird er aus der Haft entlassen. Ein Foto in der Bild-Zeitung, aufgenommen während eines früheren Ausgangs, zeigt einen gealterten Mann mit Glatze, Brille und Bauch, der auf einer Parkbank sitzt und leer vor sich hin starrt…